Igor Levit „HAUSKONZERT“
Igor Levit begeistert in der Elbphilharmonie wie auf Twitter. Das erste Buch „eines der wichtigsten Künstler seiner Generation … der Pianist des Widerstands.“ New York Times
Igor Levit gehört zu den besten Pianisten seiner Generation. Doch sein Wirken geht weit über die Musik hinaus: Er erhebt seine Stimme gegen Rassismus, Antisemitismus und jede Art von Menschenhass. Er engagiert sich für den Klimaschutz und tritt für die Demokratie ein. Was treibt ihn an? Woher rührt seine Energie? Der Journalist Florian Zinnecker begleitet Igor Levit durch die Konzertsaison 2019/20. Gemeinsam erleben sie eine Zeit der Extreme. Es ist das Jahr, in dem Levit öffentlich Partei gegen Hass im Netz ergreift und dafür Morddrohungen erhält. Das Jahr, in dem er für Hunderttausende Hauskonzerte auf Twitter spielt. Und das Jahr, in dem er zu sich selbst findet – als Künstler und als Mensch.
- Verlag: Hanser, Artikelnr. des Verlages: 505/26960
- Seitenzahl: 299
- Erscheinungstermin: 12. April 2021, Sprache: Deutsch
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2021
Klänge wie Säulen im Raum
Öffentliche Intimität: Der Pianist Igor Levit hat gemeinsam mit dem Journalisten Florian Zinnecker ein Buch geschrieben.
Ziemlich genau in der Mitte des Buches, das der Pianist Igor Levit zusammen mit dem Zeit-Journalisten Florian Zinnecker verfasst hat, steht eine Selbsterklärung: „Ich habe noch nie umschalten wollen. (…) Für mich ist auf die Bühne gehen und Musik machen im Grunde eine natürliche Fortsetzung meines Lebens. Ich spiele keine Rollen. Ich habe noch nie Rollen gespielt. (…) Das ist einfach mein Leben, das hier stattfindet.“
Damit ist der unausgesprochene Vertrag formuliert, auf dem dieses Buch beruht, die Einheit von Kunst und Leben. Zinnecker hat Levit ein Jahr lang begleitet, sich von ihm sein Leben erzählen lassen. Es war das Beethoven-Jahr 2020, das dann zum für die meisten Musiker so verheerenden Corona-Jahr wurde. Levit hat das Beste aus der Krise gemacht. Er konnte einen schon geplanten Podcast zu Beethovens Klaviersonaten produzieren – nie war das Format willkommener –, und er streamte ein paar Wochen Hauskonzerte aus seiner Wohnung für glückliche Zuhörer. Diese mit einfachsten Mitteln vollbrachte Freigebigkeit gehörte zu den Momenten, die Einigkeit in der von der Krankheit geplagten Gesellschaft stifteten.
Zinnecker ist der Verfasser des Buches, Levit sein Gegenstand und zugleich Mitautor. Es beruht auf persönlicher Nähe, die zur Freundschaft wird, und lässt die Leser daran teilhaben. Jeder, der sich vom Enthusiasmus anstecken lässt, kann sich mit dem Menschen Levit befreunden, soweit es in einem Buch eben möglich ist.
Wie in einem scheinbar zufälligen Gespräch wird die ganz Biographie erzählt, sprunghaft, mit Rückblicken. Das talentierte, unendlich fleißige, zunächst pummelige Kind russisch-jüdischer Einwanderer wird zu einem der Großen in der Welt der Musik, das ist atemberaubend und stellenweise spannend. Zugleich ist es eine Aufstiegs- und Integrationsgeschichte, ein Beispiel fürs Gelingen.
Zinnecker zeigt sich als ambitionierter Beschreiber von Musik. So versprachlicht er Beethovens Waldsteinsonate in Levits Interpretation: „Im zweiten Satz bleibt die Musik stehen, die Leichtigkeit hat sich in Schwermut verwandelt. Igor zerlegt die Akkorde so, dass alle Klänge bewegungslos wie Säulen im Raum stehen, die Musik klingt, als hätte nicht Beethoven sie geschrieben, sondern der sehr alte Franz Liszt, jeder Ton kommt direkt aus der Ewigkeit, eine Melodie, die den Ehrgeiz hätte, irgendwohin zu streben, gibt es lange nicht. Die Töne sind Zustand, nichts bewegt sich. Alles ist, was es ist.“ Wer möchte da nicht sofort hineinhören!
Das komplexe Leben eines Stars, der die Lasten dieser Rolle zugleich so fern wie möglich von sich zu halten versucht, ist das eine. Levits affektives, moralisches Reagieren auf Politik und Zeitumstände, nicht nur im Medium Twitter, auch als Flüchtlingshelfer, zeigt einen Bürger, der sich als Gleicher unter Gleichen ins Getümmel stürzt und dabei womöglich seine Reichweite unterschätzt. Aber ohne dieses absichtsvoll egalitäre Rollenverhalten wären Momente wie die öffentliche Intimität der Hauskonzerte oder der auf Twitter publizierten Fingerübungen eben nicht möglich. Und so hat der Bundespräsident das Verdienstkreuz einem Künstler verliehen, der auch Mitbürger ist.
Dass Levit sich nicht oberhalb der Tageskämpfe hält, sich nicht ins Auratisch-Nebelhafte des künstlerischen Genies zurückzieht, macht ihn zum Ziel von Widerspruch und Hass, auch von Morddrohungen, wie sie auch viele lokale wie prominente Politiker und Journalisten erleiden. Levit sympathisiert mit den Grünen, der AfD gilt sein Abscheu, der FDP hat er für den Fehler von Thüringen seine Missachtung ausgesprochen. Furchtbar sind offen antisemitische Anfeindungen, denen er immer wieder ausgesetzt ist.
Kann man die Ungeschütztheit der Zeitgenossenschaft auf Levits Musizieren beziehen? Vielleicht doch: Ohne die Nervosität und Vitalität des Zeitgenossen und politischen Menschen, der sich nicht abschirmt, wäre auch die Expressivität des Interpreten nicht zu haben.
Zinnecker sagt es gegen Ende des Buches so: „Und während er spielte und spielte, wird immer deutlicher, was ihn als Pianisten so besonders macht. Sein Status des Ausnahmetalents beschränkt sich auf die Klavierbank. Abseits ist er ein ganz normaler Mensch, er geriert sich nicht als Jahrhundertgenie, hat nicht den Habitus des Großkünstlers, der immerzu für seine Musik lebt, in einer Welt, in der die wichtigsten Gesetze sich auf Dominantseptakkorde und Quartvorhalte beziehen, sondern in derselben wie seine Zuhörer. Und das führt dazu, dass man, wenn er spielt, nicht das Gefühl hat, man wende sich von der Realität ab und der Kunst zu.“ Selten hat man in einem Künstlerbuch so ungeschützt auch von der Verletzungskraft von negativer Kritik und Verrissen erfahren. Levit wurde mit Ruhm nicht sparsam bedeckt, aber es gab auch Gegenstimmen, etwa in der SZ. Wie Levit einen Kritiker-Angriff erlebte, für den die SZ um Entschuldigung bat, kann hier erfahren werden. Das ist wichtig, weil Musiker anders als Schriftsteller ihren Kritikern nicht mit dem gleichen Mittel, nämlich der Sprache, antworten können. Die großen literarischen Verrisse können mit weit größeren Texten der verrissenen Autoren vors Gericht der Nachwelt gebracht werden.
Immerhin, auch die Konzertleistungen der Interpreten lassen sich immer öfter auch nachhören, von ihren Aufnahmen ganz zu schweigen. Wer dieses Buch gelesen hat, kann sich beim Zuhören den ganzen Menschen Levit vorstellen, mit seiner Energie, seiner Spontanität, aber auch mit seinen Zweifeln, dem Hang zur Selbstüberforderung. Umso schöner, wenn sich die Musik dann doch über all das erhebt.
GUSTAV SEIBT